7. April 1999

Allerlei Unbehagen

Das 19. Jahrhundert endete in einer Krise, deren Ursache den Beteiligten nur bedingt einsichtig, deren Charakteristikum eine gewaltige Unsicherheit war. Eine Modernisierungsflut hatte die Tradition unterspült, einige Verwirrung mit sich und zu einer kollektiven Identitätskrise geführt. Der Zeitgeist, zwischen Irrationalismus und Positivismus schwankend, brachte die wunderlichsten Mentalitäten hervor - und ging in ihnen unter. In dem Durcheinander verlor zwangsläufig auch der Einzelne seinen Sinn für sich und die Welt. Während alles um ihn herum immer größere Konnexionen annahm, wurde er in immer engere Sektoren abgedrängt und von der Undurchsichtigkeit der Verhältnisse erdrückt. Im Fin de Siècle erfuhr sich die Moderne selbst als Schock. Respektive: Im Fin de Siècle wurde das Leiden an der Moderne evident. Es provozierte Nachdenklichkeit und Selbstbeobachtung.

Zumeist jedoch blieben derlei Anstrengungen erfolglos. Hugo von Hofmannsthal konstatierte: „Ich glaube, es hat nie solche Menschen gegeben, wie wir sind.“ Zwei Perspektiven boten sich an: Man stand entweder am Ende oder am Anfang einer Entwicklung - je nach Temperament feierte man die Apokalypse oder ein neues Zeitalter. Niemand wusste verbindlich zu sagen, wie es weitergehen würde. Darum beantragte Samuel Lublinski: „Es wird die Hoffnung, ja sogar der ziemlich dringende Wunsch ausgesprochen, die Moderne möchte zur Selbstbesinnung gelangen, sich ihres Grundproblems bewusst werden.“ Aber just das war dem Fin de Siècle unmöglich. Es reagierte nur, bot bloß Reflexe auf eine trostlose Welt.

Zwar wurde mit der Modernisierung vieles gewonnen, doch schwand gleichzeitig der Überblick. Ohne Ambivalenz war nichts mehr zu bekommen. So tappte der Einzelne aus einer Unsicherheit in die nächste. Und natürlich war man dankbar für Konzepte, die Sinn versprachen. Wäre doch schön, die verlustigte Einheit per Rezept wiederzuerlangen. Derlei Versuche blühten im Fin de Siècle wie nie zuvor. Die Vielzahl miteinander konkurrierender Strömungen und Bewegungen führte zu einem einzigartigen Indifferenzphänomen. Zu fast jedem Entwurf existierte ein Gegenstück. Man rief zur Ein- und Umkehr. Blut, Boden, Rasse, Vegetarismus, Satanismus, Freikörperkultur und Wasserkur avancierten zu Heilsversprechen. Zwischen Wagner und Wandervögeln tummelten sich mindestens zwei Generationen auf den Pfaden zum Glück. Sämtliche erdenklichen Gesinnungen wurden verramscht.

Die Leute suchen nach einem Ordnungsgefüge, in dem man sich beruhigen, niederlassen oder mit dem man wenigstens zurechtkommen konnte. Aber das war so einfach nicht zu haben. Nahezu alle Ambitionen prallten an der verhärteten Wirklichkeit ab und verpufften als kulturkritische Wölkchen. Schließlich musste Hugo von Hofmannsthal feststellen: „Das Leben ist uns ein Gewirre zusammenhangloser Erscheinungen; froh, eine tote Berufspflicht zu erfüllen, fragt keiner weiter. Erstarrte Formeln stehen bereit, durchs ganze Leben trägt uns der Strom des Überlieferten. Wir denken die bequemen Gedanken der andern und fühlens nicht, dass unser bestes Selbst allmählich abstirbt.“

Die Einzelnen gerieten so schnell in die Defensive, weil ihre Widerstandskraft nach Jahren der Indoktrination geschwächt war. Die Menschheit, diagnostizierte Nietzsche, sei durch die „Lüge des Ideals bis in ihre untersten Instinkte verlogen und falsch geworden“. So besaß man nicht nur nichts, womit man sich gegen die Anfeindungen des Systems hätte wehren können, man wusste womöglich nicht einmal, wogegen man sich wehren sollte. Das Fin de Siècle hatte zwar fleißig ideologische Inhalte aussortiert, aber es war ihm nicht gelungen, seine Interessen zu konsolidieren. Irgendwann vergaß man die Berechtigung seiner Ansprüche. Franz Kafkas „Fahrgast“ bemerkt: „Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte.“ Im Gemüt wird diese Entfremdung als Unbehagen wahrgenommen.

Es gibt in der Literatur des Fin de Siècle unzählige Hinweise auf dieses Unbehagen, naturgemäß selten explizite, viele sind an Situationen gebunden oder unsicher ausgeführt. Darum subsumiert der Begriff letztgültig alle unspezifischen Unglücksgefühle. Hofmannsthal schreibt: „Ich weiß nicht was es ist, aber ich bin halt traurig und leb wie in einem schlechten Halbschlaf. Vielleicht ists weil ich krank war, vielleicht hats viel tiefere Ursachen. Mir ist, als ob ich eine Menge Halbwahres in meinem Wesen verlieren müsste, in traurigen verlassenen Stunden los werden, um mich dann mir selber ganz hinzugeben. Aber Sehnsucht hab ich keine, dazu bin ich zu müd oder zu sehr anders geworden oder weiß Gott was.“

Das Fin de Siècle drängte nach einer Einheit von Leben und Willen. Man wollte unbedingt wahr sein, sich selbst leben, überall herrschte Aufbruchstimmung. Was passierte dann? Man bemerkte die Unausführbarkeit vieler Vorstellungen. Die Moderne erfand das Ideal der Selbstbestimmung nicht nur - sie verhinderte es auch. Mithin wuchs das Unbehagen zur Depression heran, ging es in grausige Aussichtslosigkeit über. Zwischen William Hoeg, Held von Herman Bangs Roman „Hoffnungslose Geschlechter“, und seinem Freund Hoff kommt es zu folgendem Dialog: „Ach, ich bin der Verwalter einer Konkursmasse....“ - „Aber warum willst du Konkurs machen, William?“ - „Wollen ist so ein schönes Wort.“ Es war ein müdes Zeitalter. „Ich war schon sehr lang nicht so ,low'“, gestand Hofmannsthal, „so ganz unfähig, mit den Tagen etwas Besseres anzufangen, als sie im Kalender durchzustreichen.“ Paralysiert von jener Willenlosigkeit konnten die Leute nimmermehr ihre Müdigkeit ablegen.

Als vergeblich erwiesen sich die Bemühungen der Einzelnen, eigene Interessen gegen die Ideologie zu behaupten. Letztlich lassen sich fast alle damals unternommenen Weltaneignungsversuche dahingehend zusammenfassen, dass sie eine unvollständige Abrechnung mit den Verhältnissen darstellen. Es ging um eine Vindikation, den Anspruch des Eigentümers auf Herausgabe einer Sache gegenüber deren Besitzer: Die Subjekte forderten von der Objektwelt, dem Apparat und der Ideologie, ihr Leben, ihre Möglichkeiten, zurück. Erfolglos. Es kam nie zum Prozess. In dieser versäumten Vindikation, einer unausgeführten Ideologiekritik, liegt das ganze Unglück der Zeit.

Im Anfang des Fin de Siècle war ein unheimliches Gefühl der Entfremdung zu sich und zum Leben, ferner die Zuversicht, dass man sich in einer Übergangsperiode befinde. Doch blieb die Situation unverändert, da den Leuten unbegreiflich. Eine immense Verunsicherung gewahrte Leopold von Andrian: „Unsere Gesellschaft von heute gleicht einer großen Stadt, in der eine geheime Krankheit wütet. Niemand weiß recht, ob er sie nicht hat, ein jeder schaut im Geheimen seinen Nächsten in die Augen, um es zu wissen - aber es ist eine stillschweigende Verabredung - man spricht nicht davon und gleitet weiter.“ Man fühlte sich verlassen. Fin de Siècle - das war der verstohlene Abschied von der Vorstellung eines geglückten Lebens. Was heute hingegen als Fin de Siècle ausgerufen wird, ist keine Tragödie, sondern eine Farce.

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