3. April 1999
Kanonade auf Spatzen

Es gibt keine Kreuzzüge mehr. Der letzte wackere Ritter, der hinabstieg in die Niederungen der Gemeinheit, um zu richten die Unverfrorenen, starb vor 63 Jahren. Dieser Haudegen hieß Karl Kraus. Einsam und furchtlos kämpfte er gegen die Verdummung und Entsittlichung an. Am 28. April wäre sein 125. Geburtstag. Nichts bräuchte die Gegenwart mehr als einen wie ihn – und nichts wäre vergeblicher und trostloser. Der Untergang der Menschheit ist längst beschlossen.

Karl Kraus war ein ausgesprochen formbewusster Mensch. Also hasste er jegliche Korruption, wurde zum Kritiker, einsam und erbarmungslos – letzteres immerhin aus Überzeugung, „denn mitschuldig wird, der Niedertracht vergibt“. Das Gros seiner Arbeiten, bemerkte schon Elias Canetti, ist erfüllt „von der Lust und der Unersättlichkeit des Angriffs“. Dieser unbändige Hass mag dem Ahnungslosen paranoid erscheinen, tatsächlich bedeutet er einen Akt der Humanität, die Reaktion eines zutiefst verletzbaren Herzens.

Das Phänomen Karl Kraus erklärt sich durch die Divergenz von dem unendlichen Gefühl für die Freiheit des Geistes einerseits und ihrem Ausverkauf andererseits. Dass die Freiheit der lüsternen Neugier, die sich als öffentliches Interesse ausgibt, preisgegeben und in kleinen Münzen auf den Markt geworfen wurde, war ihm verhasst wie nichts anderes. Dafür steht die Aufsatzsammlung „Sittlichkeit und Kriminalität“, die sich mit dem Fall der Annie Kolmar befasst: Die junge Schauspielerin wurde des Ehebruchs bezichtigt und auf schamlose Weise der Öffentlichkeit vorgeführt. Kraus als einziger reklamierte die Doppelmoral der willfährigen Ankläger. (Gesellschaftlich gefordert war damals weniger die Befolgung der Abstinenzregeln als die Wahrung gewisser Regeln bei den Regelverletzungen.)

Austragungsort dieser und anderer Attacken war die von Kraus herausgegebene „Fackel“. Das erste Heft erschien am 1. April 1899, musste mehrmals nachgedruckt werden und erreichte eine Auflage von 30.000 Exemplaren. In den 36 folgenden Jahrgängen schwankte die Auflage zwischen neun und 38 Tausend. Kraus alleine war für die Fackel verantwortlich und ab 1911 auch ihr einziger Autor. Die Zeitschrift war zugleich intimes Journal, Chronik und rhetorische Tribüne. Aus den Artikeln sowie aus den Bearbeitungen und Nachdichtungen von Shakespeare, Nestroy und Offenbach, die er mit großem Erfolg vortrug, rekrutieren sich die Bücher, die Suhrkamp als „Schriften“ in zwei Abteilungen anbietet.

Kraus war ein Krieger, der gegen die Dummheit zu Felde zog. Seine bevorzugten Waffen waren die Glosse und das Zitat. Die Zensur zu umgehen, beschränkte sich Kraus oftmals darauf, Fundsachen aus der Presse, die also bereits die Zensur passiert hatten, wörtlich wiederzugeben und sie allein durch eine zusätzliche Überschrift oder typographische Hervorhebung als niederträchtig zu überführen. Er erfand das Zitat als Satire. So gab er seinen Lesern viel zu lachen, seinen Gegnern freilich nicht; was ihm etliche Prozessen und gar Prügel einbrachte.

Indem er sie zitierte, fertigte er seine Gegner ab. So auch den Berliner Starkritiker Alfred Kerr. Als der auf schmähliche Weise Karl Liebknecht denunzierte und sich als Pazifist und Mentor der Völkerverständigung gerierte, obwohl er Jahre zuvor unter Pseudonym glühende Kriegsgedichte veröffentlicht hatte, bekam er es mit Kraus zu tun und eben das vorgehalten. Nun wehrte sich Kerr derart unglücklich und überdies geschmacklos, dass Kraus seine Replik wörtlich in der Fackel abdrucken konnte mit dem Zusatz: „Es ist das Stärkste, was ich bisher gegen Kerr unternommen habe.“ Am Ende dieser Fehde schlug Kraus vor, Kerr solle seine mit der Kriegslyrik erworbenen Honorare spenden an die Kriegsblinden und Invaliden.

Kraus besaß die Gabe, das Wort von der Lüge zur Wahrheit zu wenden. „Die üble Nachrede, die ich ihren Honoratioren halte, ist nichts als ein gutes Nachreden.“ Das Zitat, wie er es gebrauchte, sagte gegen den Zitierten aus. Dieser Kunstgriff bestimmt ihn zum Begründer der modernen Satire. So dürfen sich Henning Venske und Oliver Kalkofe auf ihn berufen. Alle drei wissen auch, dass die Wirklichkeit sich immer wieder beeilt, den satirischen Entwurf noch zu überbieten. Das macht ihr Geschäft zu einem trostlosen.

Zur Presse: Sie gab Kraus tagtäglich Anlass zu neuen Schimpftiraden – und das gleich zweifach: Aufgrund ihrer Heuchelei und aufgrund ihrer sprachlichen Inkompetenz. Kraus schalt die Presse „denkkraftersparendes Blendwerk“ und „Phrasensumpf“. Leider gibt es noch immer genügend Journalisten, die sich die Wahrheit abkaufen lassen und ihre eigene Dummheit zum Maß aller Dinge machen, noch immer gibt es Redakteure, die die Sprache nicht als Ausdruck eines Gedankens begreifen und lieber in Phrasen schwelgen. Die Zerstörung der Sprache aber führt zu einer Verrohung der Phantasie, die wiederum zu einer der Sitten. Kraus war der Überzeugung, dass etwaige Weltverbesserung nur durch eine Sprachbewahrung gelingen könnte. Das kapiert heute freilich keiner mehr.

„Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, brauchte sie keine Waffen. Man muss damit anfangen, sich sprechen zu hören, darüber nachdenken, und alles Verlorene wird sich finden. (...) Jede Gedankenlosigkeit, die man spricht, war einmal ein Gedanke.“ Also kämpfte Kraus gegen die das Leben entwürdigende Gedankenlosigkeit, gegen Korruption und schlechten Sprachgebrauch. Bereits eine falsche Präposition oder ein Kommafehler genügten, ihn rasen zu lassen. Was hätte er wohl zu Türck, Schäfer, Kiesbauer und Konsorten gesagt? „Können sie uns den nicht umbringen, ohne uns vorher blöd zu machen?“

Kraus widmete sich stets konkreten Anliegen. Mit furiosem Hass ging er gegen vermeintlich kleine, aber durchaus symptomatische Auswüchse vor; selbst auf die Gefahr hin, dass sich die sprichwörtlichen Spatzen durch den Gebrauch der Kanone überschätzt fühlen. „Das Pläsierchen jedoch, das ich an dem kleinsten Tierchen habe, möge dieses mir gönnen; es entbehrt schon nicht der tieferen Berechtigung.“ Kraus wusste: Im kleinsten Schmierfink steckt der Weltuntergang. „Sie sollen mich nur lassen; ich weiß schon, warum ich das unverhältnismäßige Mittel anwende, und weit problematischer bleibt doch mein Verfahren, Perlen vor die Säue zu werfen. Es dürfte sich aber herausstellen, dass ich mit Kanonen auf eben diese zu schießen pflege.“

Indem Kraus das Gesagte mit dem Gemeinten und das verfälschte Bewusstsein mit der Realität konfrontierte, leistete er Ideologiekritik. So erkannte er die Menschen als „Opfer des ewigen Betrugs der vorgesteckten Ideale, hinter denen die täglich zunehmende Verödung und Verblödung als die sichere Kapitalsanlage erkannt wird, die den Parasiten der öffentlichen Meinung und Führung Zinsen trägt“. Unverdrossen setzt Kraus auch hier auf sprachliche Sorgfalt: „Der Zweifel, als die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt.“

Des politischen Geschäfts müde – „jenes Forstwursteln“, das gerade „die Wartezeit bis zum Untergang ausfüllt“ – wurde dem späten Kraus die Sprache zur letzten Zuflucht. In quasi religiöser Wertschätzung suchte er ihren Ursprung und sie mindestens vor Missbrauch und Verunstaltung zu bewahren. Bei alledem war Kraus kein Oberlehrer, sondern ein die Sprache empfindender. Stets ging es ihm nur darum, die Worte so zu setzen, „dass sie das Ineinander ergeben, in welchem Ding und Klang, Idee und Bild nicht ohne einander und nicht vor einander da sein konnten“. Ein solcher Autor „liest zwanzig bis dreißigmal, was er geschrieben hat, ehe er es erscheinen lässt, prüft und wägt jedes Wort, ja selbst die Stellung jedes Worts in der Zeile, (...) wendet Stunden an die Entscheidung zwischen Beistrich und Strichpunkt“. Güte, wer weiß denn so was noch zu würdigen? (Die dahergelaufenen Dilettanten auf Redakteursposten gewiss nicht.) Was fehlt, ist Stil. „Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert.“

Während man sich also im zwanglosen Umgang übt, der peinlichen Heiterkeit huldigt und der Geistlosigkeit anheimgibt, walten allerorten Niedertracht und Ahnungslosigkeit. Wahrheit ist nur noch lästig, der Karriere hinderlich. Statt ihrer gibt es Klatsch und Sensationen. Davon zehrt eine ganze Industrie. Da gibt es nichts zu lachen. Nur merkt es keiner mehr. „Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.“ Doch wen kümmert´s? „Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht Bange machen.“

Porträt | Zum 100. Jahrestag der Fackel | NOLLS PASSAGE